Listen Magazine Feature
Joachim Kühn über seinen Streifzug durch die bildende Kunst – und über seine Liebe zu Ornette Colemann, J.S. Bach und afrikanische Rhythmen. von Ben Finane
Joachim Kühn begann sein Musikleben als klassischer Konzertpianist, aber die Anziehungskraft des Jazz war stärker. Dieses Frühjahr war Kühn, der mit 73 Jahren seit über 50 Jahren Musik macht (und auf fast 50 Alben vertreten ist), bei einer Vernissage seiner Bilder – von denen viele Notenschrift zeigen – in der Fabrik der Künste in Hamburg.
Kühn kam durch den Jazz-Schlagzeuger Daniel Humair zur Malerei, der den Pianisten Mitte der 80er in Museen und Galerien in Paris mitnahm und ihm unterschiedliche Kunstströmungen und –richtungen näherbrachte. Kühn, der sein ganzes künstlerisches Leben für neue Ideen und Einflüssen empfänglich gewesen ist, hat auch das helle, tanzende Licht von Ibiza, wo er in einem Haus am Strand lebt, auf die Leinwand gebannt.
Bei der Vernissage seiner überwiegend großformatigen, heiteren Kunstwerke (Acryl auf Leinwand) spielte Kühn einen kurzen Klaviervortrag, der mit einer langen Improvisation endete und sich in „Body and Soul“ auflöste, das vom Steinway & Sons Spirio „gespielt“ wurde. Das Spirio ist ein hochauflösendes Selbstspielsystem, das auch wie jedes andere Steinway-Klavier gespielt werden kann. Kühn riss seine Hände dramatisch von den Tasten und kicherte, als das aufgenommene Stück auf dem Spirio übernahm und den Satz beendete. Ich sprach mit Kühn an diesem Tag in seinem Hotel in Hamburg.
Sie haben, musikalisch gesprochen, so viele verschiedene Orte bereist. Gibt es eine Ausdrucksweise oder einen Stil, mit dem Sie sich am wohlsten fühlen?
Ich denke, es gibt nur einen Stil. Es mag unterschiedliche Musik, unterschiedliche Formationen von Musikern geben. Ich spiele jetzt seit über 50 Jahren; ich habe viele unterschiedliche Dinge ausprobiert. Aber ich denke, man kann meine Handschrift immer erkennen, egal was ich tue. Natürlich ist auch immer der Stil, den ich gerade spiele, der, mit dem ich mich am wohlsten fühle – ansonsten würde ich anders spielen. Mit den Jahren hat man so Ideen: ‚Ich will mit afrikanischen Musikern spielen, mit amerikanischen, europäischen, asiatischen Musikern.‘ Das gefällt mir. Das sind Erfahrungen, und wenn ich von dieser Welt gehe, habe ich vielleicht die Essenz des Ganzen gefunden. Daran arbeite ich: bessere Musik zu machen, bis ich umfalle.
Bilder von Steinway Artist Joachim Kühn in der Fabrik der Künste in Hamburg
Das klingt, als würde jede musikalische Erfahrung Ihre musikalische Reise bereichern. Als komme alles zusammen.
Absolut alles. Und es begann mit den Klassikern. Ich hatte das Glück, sechs Jahre lang mit Ornette Coleman zu spielen – seine eigenen Kompositionen.
Was haben Sie von Coleman gelernt?
Er war schon früh einer meiner Helden, aber mit ihm zu spielen… Ich war sehr beeindruckt. Er hat für jedes Konzert den Aufwand betrieben, zehn neue Kompositionen zu schreiben. Er hat mich für eine Woche von Ibiza nach New York einfliegen lassen, um in seinem schönen Studio zu spielen, diese zehn neuen Kompositionen, zwölf Stunden am Tag, eine Woche lang. Er sagte: ‚Make the cards! Make the cards!‘ Und ich dachte, was will er nur? Sein Sohn sagte: ‚Er meint die Akkorde.’
Ornette war wirklich mit Leib und Seele bei der Sache. Er mietete jedes Mal einen Steinway, wenn ich zu ihm kam, und die Bänder liefen, sobald ich das Studio betrat. Ich habe 500 Stunden allein mit Ornette. Nach fünf, sechs Tagen mit zehn neuen Stücken kennt man sie wirklich gut und kann richtig brennen. Dann noch ein Tag Probe fürs Konzert. Das habe ich also von ihm gelernt: Ich begann, Programme meiner Kompositionen zu machen; zehn Stücke aufnehmen und sie dann in einem Programm zusammenbringen. Ich habe bisher 39 gemacht, das sind fast 400 Kompositionen seit 1999.
Was ich von Ornette gelernt habe – ich könnte eine Stunde weitererzählen. Aber das Wichtigste, was ich jetzt habe, ist meine eigene Tonsprache. Ich nenne sie das ‚Diminished Augmented System’.
Sie haben auch ein Album mit diesem Namen gemacht.
Ja, das habe ich! Während einer Probe sagte ich zu Ornette: ‚Welchen Akkord findest du besser: diesen oder diesen? Ich bin mit beiden nicht ganz happy, vielleicht sollte ich es mit vermindert übermäßig probieren.‘ Und er sagte: ‚Probier es aus!‘ Plötzlich klang es richtig und mir kam die Idee des ganzen Systems – man kann darüber improvisieren, man kann damit komponieren, und es ist nicht intellektuell: Jeder gute Musiker kann es auf Anhieb. Ich arbeite damit seit 1999.
Können Sie kurz die Theorie hinter dem Diminished Augmented System erklären?
Es ist eine eingeschränktere Tonsprache. Mit einem übermäßigen Klang – ich sage nicht mal Akkord – ist man auf vier beschränkt; mit dem verminderten hat man nur drei. Man hat also nur sieben Klänge, mit denen man arbeitet. Jetzt kann man den Siebten und den Neunten dazunehmen. Das sind die Grundlagen. Darüber kann man improvisieren und sozusagen direkt mit der eigenen Improvisation harmonisieren! Oder man schreibt es auf. Übermäßig ist für mich mehr Dur als Dur, und vermindert mehr Mol als Mol: Es gibt zwei Mol-Intervalle im übermäßigen System und zwei Dur-Intervalle im verminderten. Für mich ist das eine logische Sache.
Haben Sie noch andere musikalische Helden?
Der ganz große Held, die Grundlage, ist Bach.
Aha. Ich habe Ihre Chaconne gehört [auf dem Album Allegro Vivace (ACT)].
Ich wurde in der Thomaskirche in Leipzig konfirmiert.
Es gibt viele Musiker, für die alles auf Bach zurückgeht. Warum bleibt Bach für so viele Klassik- und Jazzmusiker das Fundament?
Weil er das wahre Genie war, vielleicht das einzige Genie, wenn man diesen hochgegriffenen Begriff verwenden möchte. Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt Bach gespielt wird.
Ich war im Thomanerchor, den Bach gegründet hat, und bin in diesem Chor groß geworden. Ich habe mit Christoph Biller, dem 16. Kantor nach Bach, zusammengearbeitet [er war Thomaskantor von 1992 bis 2015]. Wir hatten ein Konzert, und ich habe davor ca. sechs Monate lang an Bach-Motetten gearbeitet, um den Bass richtig zu analysieren. Man kann frei improvisieren. Manchmal hat Bach die Karten neu gemischt; das ist wirklich komplex, und wenn man falsch spielt, merkt jeder es. Beim Free Jazz ist das anders, wenn man eine falsche Note spielt [lacht], ist das nicht schlimm. An Bach muss man wirklich arbeiten. Und nach diesem Konzert mit dem Thomanerchor sagte ich zu Biller: ‚Ich hoffe, Bach dreht sich nicht im Grabe um.‘ Er sagte: ‚Nein, nein – er würde so improvisieren wie du.‘ [Lacht.] Wir haben eine Tournee mit 15 Konzerten zusammen gemacht und eine Platte rausgebracht [Bach Now (Universal)]. Die Strategie war, genau zu spielen, was Bach notiert hat, und Kadenzen zu improvisieren. Ja, also Bach, John Coltrane und Miles Davies sind diejenigen, von denen ich noch immer lerne.
Ich improvisiere gern im Leben, auf dem Klavier und in der Malerei. Echte Improvisation – wenn man nicht weiß, was man tun wird. Tun durch das Tun, sozusagen.
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Wenn Sie Musik machen und Bilder malen, was ist gleich und wo liegen die Unterschiede?
Das Einzige, was bei beiden gleich ist, ist, dass ich sie improvisiere. Wenn ich mit Malen anfange, weiß ich nicht, was dabei herauskommen wird. Wenn ich mich ans Klavier setze, ist das Ziel, etwas zu spielen, das ich noch nie zuvor gespielt habe. Ich versuche, etwas Neues zu improvisieren, probiere andere Techniken aus, bin auf der Suche nach neuen Klängen. Diese Idee liegt meinem Leben zugrunde. Ich improvisiere gern im Leben, auf dem Klavier und in der Malerei. Echte Improvisation – wenn man nicht weiß, was man tun wird. Tun durch das Tun, sozusagen. Und dann findet man schließlich das Ergebnis.
Jetzt, nach einigen Jahren des Experimentierens, hatte ich die Idee, Noten zu malen, Notenschrift auf abstrakte Weise. Ich denke, das ist genau mein Ding. Ich konnte mit fünf Jahren Noten lesen – noch bevor ich Wörter lesen konnte. Mein erstes Konzert gab ich mit sechs. Ich liebe es, Noten von Hand aufzuschreiben; ich mag das Gefühl. Alles passiert im Kopf. Als ich Klavier lernte, brachte mir mein Lehrer gleichzeitig auch Komposition und Musikgeschichte bei. Ich habe also von Anfang an gelernt, ohne Musik zu komponieren. Das ist wichtig: Ich kann notieren, wo ich will. Jederzeit.
Sie komponieren also nie am Klavier?
Ich versuche, es nicht zu tun. Aber es kann mal passieren. Ich möchte mich nicht einschränken.
Manchmal, wenn man am Klavier komponiert, greifen die Hände bekannte Muster.
Ganz genau. Und wenn ich konzentriert schreiben will, kann ich das auch am Strand machen.
Hören Sie Musik, wenn Sie malen?
Nein. Nicht, weil ich mich dann nicht konzentrieren kann, sondern weil ich richtig zuhören will, wenn ich Musik höre. Ich brauche keine Hintergrundmusik.
Hat Ihnen das Spielen auf dem Steinway & Sons Spirio Spaß gemacht?
Ja! Das war etwas Neues, und ich bin immer offen für neue Dinge. Es bietet viele Möglichkeiten. Natürlich ist an dieser Technologie nichts, wovor man Angst haben müsste, meine einzige Sorge wäre nur, dass mit der Möglichkeit, Noten aus Akkorden zu schneiden, Noten zu ändern etc. man Richtung Perfektionismus abdriftet. Ich bin kein Perfektionist. Ich möchte kein Perfektionist sein. Diese kleinen Fehler gehören doch dazu – ich mag das.
Und ‚diese kleinen Fehler’ lassen die Musik live erscheinen.
Ja, so ist es menschlicher!
Aber gefällt Ihnen das Spirio-Ergebnis? Quasi Ihr Geist im Klavier?
Mir gefällt die Idee, dass man mit diesem Instrument eine hübsche Musikbibliothek bekommt, die direkt vom Steinway gespielt wird. Nehmen wir ein älteres Paar, das zu Hause sitzt und nicht mehr in Konzerte gehen kann. Die kaufen sich das Klavier und er sagt zu seiner Frau: ‚Wollen wir heute Abend Lang Lang hören?‘ Und da ist er schon! Direkt im Zimmer! Das ist fantastisch; es ist etwas Neues. Und der Sound kommt aus dem Klavier und wird nicht durch einen Lautsprecher gefiltert.
Gibt es etwas, das Sie noch nicht gemacht haben und gerne tun würden?
Da gibt es bestimmt ein paar Musiker, mit denen ich gerne noch spielen möchte. Aber ich möchte zunächst einmal jeden Tag arbeiten, um bessere Musik zu machen. Afrikanische Musik gefällt mir wirklich sehr. Ich werde bald mit einem afrikanischen Musiker als Mali zusammenarbeiten, Bassekou Kouyaté. Er ist ein fantastischer Musiker und spielt das malische Instrument Ngoni. Seit ich seine Platten vor acht Jahren gehört habe, will ich mit ihm zusammenspielen.
Was macht afrikanische Musik für Sie so anziehend?
Der Rhythmus. Rhythmus kommt aus Afrika. Das ist etwas Grundlegendes. Als Europäer afrikanische Musik zu begreifen, ist extrem schwer. Manchmal kriege ich es auch nicht heraus und muss meinen marokkanischen Freund um Hilfe bitten. Es ist eine andere Welt. Es gibt rhythmisch so viel zu lernen. Wenn man drin ist, in der Trance, kann man wirklich aus sich herausgehen; die afrikanischen Musiker verlieren den Rhythmus nicht, das steht fest [lacht]. Also überlässt man ihnen den Rhythmus, und man selbst kann darüber verrückt in die Tasten hauen.
Ich liebe Ihr Album mit Rabih Abou-Khalil, Journey to the Centre of An Egg. Hatten Sie da dieselbe Strategie – er bildet das Fundament und Sie fliegen darüber?
Die Aufnahme war unser erstes Mal, dass wir zusammengespielt haben. Wir hatten nicht geplant, eine Platte zu machen; wir waren einfach in dem Studio, ohne Stücke. Danach haben wir live gespielt. Sie können mir glauben, nach der Aufnahme glühten wir. Die Aufnahme an sich war eher ruhig. Ich liebe Rahib.
Ich auch. Sein Album Blue Camel [Edition MAWi/Enja Records] ist ein Meisterwerk.
Ja!
Diese Artikel ist ursprünglich in Listen: Life with Music & Culture, Steinway & Sons’ preisgekröntem Magazin, erschienen.
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